Integration – auch in Chile ein Projekt für alle?
Migrationsexpertin Prof. Dr. Annette Treibel erklärt, inwiefern die aktuelle Situation in Chile mit der in Deutschland 2015 vergleichbar ist, wo die Unterschiede liegen und was wir von Chile lernen können
Migration und Integration sind nicht nur in Europa ein aktuelles Thema. Chile beispielsweise ist in Südamerika ein sehr beliebtes Einwanderungsland geworden. Vor diesem Hintergrund hat die rechtskonservative Regierung vergangenes Jahr die Einwanderungsgesetze verschärft und eine grundsätzliche Diskussion in der Gesellschaft ausgelöst. Auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung konnte nun Prof. Dr. Annette Treibel, Leiterin des Instituts für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, ihren Ansatz „Integration – ein Projekt für alle“ in mehreren chilenischen Städten vorstellen.
Frau Treibel, wie ist derzeit die Stimmung in Chile? Sie haben bei Ihrer Seminarreihe sowie bei Diskussionen mit Vertreterinnen und Vertretern von Universitäten, Migrantenorganisationen, Parteien und anderen Institutionen sprechen können.
Aufgrund der aktuell starken Zuwanderung aus Venezuela und Haiti sehen sich viele Chileninnen und Chilenen ‚erstmals‘ mit Einwanderung konfrontiert, was allerdings im Widerspruch zur Geschichte des Landes steht. Denn die chilenische Gesellschaft ist nicht vorstellbar ohne erhebliche Einwanderung aus europäischen Ländern und auch aus den Nachbarländern Argentinien, Bolivien und Peru. Insbesondere die europäische Einwanderung als ‚Migration‘ zu betrachten, wird jedoch zurückgewiesen. Man spricht dann lieber von Kolonisten oder Siedlern. Insgesamt habe ich den Eindruck gewonnen, dass es ein großes Interesse gibt, sich über Fragen der Migration und Integration auszutauschen und etwas über die gesellschaftspolitischen Debatten und die Entwicklung der Migrationsforschung in Deutschland und Europa zu erfahren.
Ist die Situation in Chile mit der sogenannten Flüchtlingskrise in Deutschland 2015 vergleichbar?
Die Situation ist insofern vergleichbar, als die chilenische – wie die deutsche – Öffentlichkeit auf die jeweils aktuelle Zuwanderung fixiert zu sein scheint, ohne den Erfahrungsschatz zu realisieren, den sie aufgrund früherer Einwanderungen bereits hat. Anders als in Deutschland hat man in Chile nun durch die Zuwanderung aus Haiti, wo Kreolisch gesprochen wird, aktuell erstmals das Thema Sprachförderung auf dem Tisch. Durchaus vergleichbar sind die Aktivitäten der Zivilgesellschaft: Auch in Chile sind sehr viele Menschen aktiv, die sich auf unterschiedliche Weise für die Neuankömmlinge verantwortlich fühlen und Hilfestellung geben – auch wenn dies quantitativ nicht die Dimensionen wie in Deutschland erreicht. Ähnlich wie in Deutschland sind aber diejenigen Neuankömmlinge, die man als nicht nur dankbar, sondern als anspruchsvoll und ungeduldig erlebt, weniger gut gelitten.
Welche Positionen prallen in Chile aufeinander?
Aus Sicht meiner chilenischen Gesprächspartner und -partnerinnen ist die politische Polarisierung dort sehr ausgeprägt. Man ist entweder rechts oder links. Hier wirken auch die Zeit der Militärdiktatur unter Pinochet von 1973 bis 1988 und die Frage, wie man aus heutiger Sicht die Regierungszeit des Sozialisten Allende von 1970 bis 1973 einschätzt, nach. So werden unter Umständen auch die unterschiedlichen politischen Flüchtlinge, die unter Pinochet, aber manche auch zur Zeit Allendes das Land verlassen hatten und mittlerweile zurückgekehrt sind, je nach ‚Lager‘ skeptisch beäugt.
Sie sehen Integration als Aufgabe aller Mitglieder einer Gesellschaft, der Migranten genauso wie der Nicht-Migranten. Wie wurde Ihr Ansatz in Chile aufgenommen?
Für manche war mein Ansatz nicht konkret genug, sie hatten offensichtlich eine Art ‚Rezeptwissen‘ erwartet. Nach dem Motto: Ergreifen Sie diese oder jene Maßnahme, dann werden Sie keine Konflikte mehr haben. Ich habe aber von den unterschiedlichen Kooperationen in Deutschland berichtet und auch von den Konflikten – die, wenn sie friedlich verlaufen, mittelfristig integrationsstiftend sein können. Eben diese Perspektive fanden andere sehr fruchtbar und innovativ. Da lautete dann der Kommentar: Mit Ihrem Ansatz können wir in die Zukunft sehen. Wir sind gespannt, wer dann die ‚Neuen Chilenen‘ sein werden. Insgesamt gab es ein erhebliches Interesse an Deutschland als Einwanderungsland und dem ausdifferenzierten wissenschaftlichen ‚Arsenal‘ von Begriffen, Theorien und Forschungsbefunden.
Haben Sie eine Empfehlung für Chile, für die chilenische Gesellschaft?
‚Schwarze Einwanderer‘, aktuell die aus Haiti, werden besonders skeptisch, von manchen nahezu fassungslos betrachtet. Neben der ‚klassischen‘ Exklusion der indigenen Bevölkerung zeichnen sich hier neue Ausschlussmechanismen und Rassismen ab. Diese rühren möglicherweise daher, dass man bestimmte Selbstbilder ‚in Gefahr‘ sieht – insbesondere die Erzählung, dass Chile eine ‚weiße Gesellschaft‘ sei. Chile und Deutschland sind insofern vergleichbar, als beide Länder im Vergleich als sichere Länder gelten. Deshalb ist der Wunsch vieler Menschen, genau in ein solches Land zu migrieren, absolut nachzuvollziehen und ‚normal‘. Es könnte sich lohnen, nochmals über den UN-Migrationspakt zu debattieren, dem die jetzige chilenische Regierung nicht zugestimmt hatte. Insgesamt könnte mir vorstellen, dass ein Perspektivenwechsel – von den Migrantengruppen hin zur Gesamtgesellschaft - für Chile auch hilfreich wäre.
Und was kann Deutschland im Hinblick auf Migration und Integration von Chile lernen?
Daten wie die zu der Stadt Offenbach, deren Bevölkerung zu 54 Prozent aus ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ besteht, wurden sehr bestaunt. In Chile wird statistisch nicht die Migrationsgeschichte von Familien abgebildet: Es wird nur die Wanderung der Ersten Generation erfasst. Insofern werden die sieben Prozent Migranten und Migrantinnen unter der gegenwärtigen Bevölkerung als dramatisch empfunden, manche sprechen von ‚Schock‘. Alle anderen gelten als Chileninnen und Chilenen. Diese Zählung hat bestimmt auch ihre Nachteile – den Vorteil sehe ich darin, dass so etwas wie der deutsche – global einzigartige – Begriff ‚Migrationshintergrund‘ nicht mehrere Generationen an den Menschen ‚kleben‘ bleibt.
Zur Person
Prof. Dr. Annette Treibel ist Professorin für Soziologie, Leiterin des Instituts für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft sowie Leiterin des Masterstudiengangs Interkulturelle Bildung, Migration und Mehrsprachigkeit an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Migration, Geschlechterforschung, Zivilisationstheorie und Öffentliche Soziologie.
Sie ist unter anderem Mitglied der Fachkommission zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit der Bundesregierung, Mitglied im Konzil der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und im bundesweiten Rat für Migration. Außerdem ist sie für zahlreiche Einrichtungen als Gutachterin tätig. Einer größeren Öffentlichkeit wurde sie durch ihr Buch „Integriert Euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland“ (Campus 2015) bekannt.