Außenhandel, Zahlungsbilanzdefizite, "Gastarbeiter" und die europäische Integration

Die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte durch die Bundesregierungen von 1955 bis zum Anwerbestopp 1973 galt lange Zeit als ausschließlich den Bedürfnissen der westdeutschen Industrie folgende Arbeitsmarktpolitik. Erst 1995 hat Johannes-Dieter Steinert in seiner Analyse westdeutscher wanderungspolitischer Entscheidungen dann die „Koppelung mit außenhandelspolitischen Erwägungen“ sowie allgemeine außenpolitische Motive festgestellt, wenn auch unter Verkennung ursächlicher außenwirtschaftlicher Zwänge sowie diplomatischer Interessen.

Entgegen dieser bisherigen Annahmen konnte Heike Knortz infolge wesentlich verbreiterter Quellenbasis sowie der systematischen Sichtung der Akten des Bundesarbeits- und Bundeswirtschaftsministeriums bzw. des Auswärtigen Amtes schließlich zeigen, dass die Anwerbevereinbarungen von bundesdeutscher Seite ausschließlich den Prinzipien klassischer Außenpolitik folgten und sämtliche Initiativen zur Entsendung ausländischer Arbeitskräfte von den Herkunftsländern ausgingen.  ...

... In erster Linie war es dabei die deutsch-italienische Regierungsvereinbarung über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach der Bundesrepublik Deutschland, die auf die europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit fokussierte. Die mit dem europäischen Wiederaufbau einhergehende zunehmende Arbeitsteilung hatte nämlich schnell bilaterale Handelsbilanzungleichgewichte entstehen lassen, weshalb bereits Anfang 1948 der Handel zwischen einigen Ländern wieder beschränkt werden musste, was einem Fiasko gleichkam: Immerhin hatte Europa via Handel wirtschaftlich und in der Folge politisch stabilisiert werden sollen, nun aber fehlte ein die gegenläufigen Handelsströme kompensierender monetärer Ausgleich.

In Anbetracht der noch nicht konvertierbaren Währungen einigten sich die westeuropäischen Industrieländer mit der seit 1950 arbeitenden Europäischen Zahlungsunion (EZU) deshalb zunächst auf eine multilaterale Verrechnung ihrer Handelsbilanzsalden und den Ausgleich temporärer Defizite über streng limitierte Kredite. Über eine festgelegte Quote hinausgehende Kredite sind mit Auflagen für Schuldner und Gläubiger verbunden worden, was im Hinblick auf den Außensaldo disziplinieren sollte. Als sich Italien Anfang 1954 mit einem Defizit von fast 1 Milliarde US-Dollar in ernsthaften Zahlungsschwierigkeiten befand, war also auch Westdeutschland mit seinem positiven Außenhandelssaldo gefordert. Angesichts der zeitgleich anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in Italien schlugen die italienischen Vertreter im Rahmen allgemeiner Handelsgespräche der bundesdeutschen Delegation zur Lösung des Problems nun die Entsendung von italienischen Arbeitskräften vor, um mit deren DM-Überweisungen das Defizit abbauen und weiter mit der Bundesrepublik Handel treiben zu können. Das war der Beginn der später fälschlicherweise auf industrielle Arbeitskräftenachfrage zurückgeführten „Gastarbeiter“-Anwerbung.

Im Rahmen des Projekts »Außenhandel, Zahlungsbilanzdefizite, „Gastarbeiter“ und die europäische Integration« werden auf Basis der Außenwirtschaftstheorie sowie im historisch fundierten Kontext europäischer wirtschaftlicher Integration weitere italienische diplomatische Initiativen sowie europäische Anwerbeabkommen analysiert. Die tiefergehende Untersuchung des französisch-italienischen Beispiels beispielsweise unterstreicht bundesdeutsche Quellenaussagen und historischen Kontext: dass es sich bei dem deutsch-italienischen Abkommen nämlich nicht etwa um ein singuläres Phänomen, sondern um einen Teilaspekt im Prozess des europäischen Wiederaufbaus, der internationalen Arbeitsteilung und der europäischen wirtschaftlichen Integration handelte. Der von Agnieszka Dreeßen im Rahmen ihres Promotionsvorhabens auf Basis italienischer regierungsamtlicher Akten zu analysierenden italienischen Wirtschafts-, Europa- und Migrationspolitik kommt im Rahmen des so definierten Projekts ein besonderer Stellenwert zu; Kerstin Furrer bereitet mit gleichem Stellenwert eine Promotion zum Zusammenhang von Marshallplan, der Rolle der USA innerhalb der OEEC und der italienischen Migrationspolitik nach 1945 auf Basis US-amerikanischer archivalischer bzw. Quellen der OECD vor.

Knortz, Heike: Diplomatische Tauschgeschäfte. »Gastarbeiter« in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953 – 1973. Köln/Weimar, 2008.

Knortz, Heike: „Gastarbeiter“ - Anwerbe- oder Kompensationsobjekt? Bemerkungen zur bundesdeutschen Ausländerpolitik bis 1973. In: Berichte des Forschungsinstituts der Internationalen Wissenschaftlichen Vereinigung Weltwirtschaft und Weltpolitik (IWVWW), Nr. 178/179, 18. Jg. 2008. S. 64-75.

Knortz, Heike: Die außenpolitisch motivierte Anwerbung von „Gastarbeitern“. Zur verfehlten Beschäftigungspolitik des westdeutschen Industriestaates bis 1973. In: Dahlmann, Dittmar; Margrit Schulte Beerbühl (Hrsg.): Perspektiven in der Fremde? Arbeitsmarkt und Migration von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Essen, 2011. S. 359-382. (=Migration in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6).

Knortz, Heike: Die deutsch-tükische Vermittlungsvereinbarung von 1961 im wirtschafts- und diplomatiehistorischen Kontext. In: 51 Jahre türkische Gastarbeitermigation in Deutschland. Hrsg. von Şeyda Ozil, Michael Hofann und Yasemin Dayıoğlu-Yücel. Göttingen, 2012. S. 13-36. (=Türkisch-deutsche Studien. Jahrbch 2012).

Knortz, Heike: Das deutsch-italienische Anwerbeabkommen vom 20. Dezember 1955. Mythos und Akt europäischer Solidarität zugleich. In: Einsichten und Perspektiven. Hrsg. von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, Heft 4/2015. S. 26-37.

Knortz, Heike: Gastarbeiter für Europa. Die Wirtschaftsgeschichte der frühen europäischen Migration und Integration. Köln/Weimar/Wien, 2016.

Knortz, Heike: Zahlungsbilanzungleichgewichte, "Gastarbeiter" und die wirtschaftliche Rekonstruktion Europas 1945-1958. In: Schulz, Günther; Mark Spoerer (Hrsg.): Integration und Desintegration Europas. Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge. Stuttgart, 2019. S. 125-152.

Knortz, Heike: Das deutsch-tunesische "Gastarbeiterabkommen". Ein Meisterstück klassischer Diplomatie. In: Das Archiv. Zeitung für Wolfsburger Stadtgeschichte, Nr. 18, August/September 2020.

»Gastarbeiter« – Objekt transnationaler Außenpolitik (Konferenz des Instituts für Zeitgeschichte, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Bundeszentrale für politische Bildung in Verbindung mit der Zeitschrift Deutschland Archiv in Lutherstadt Wittenberg, 08.-10.11.2007).

Die außenpolitisch motivierte Anwerbung von »Gastarbeitern«. Bemerkungen zur verfehlten Arbeitsmarktpolitik des westdeutschen Industriestaates (Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kooperation mit der Gesellschaft für Historische Migrationsforschung und der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn in Bonn, 03.-05.04.2008).

Europas wirtschaftliche Integration und die Anfänge der Migration in die Bundesrepublik Deutschland (Ringvorlesung „Wege zur europäischen Integration“, Pädagogische Hochschule Karlsruhe, November 2008).

Diplomatische Tauschgeschäfte. »Gastarbeiter«, Außen- und Beschäftigungspolitik bis zum Anwerbestopp (Donnerstagsgespräche der Alten Synagoge in Essen, Januar 2009).

Die deutsch-türkische Vermittlungsvereinbarung im wirtschafts- und diplomatiehistorischen Kontext („Runder Tisch deutscher und türkischer Journalisten im Rhein-Main-Gebiet“, Mai 2011).

Arbeitsmigration in Europa 1945-1973 – nicht unbedingt eine Frage des Arbeitsmarktes (Internationale Konferenz „Zuwanderung. Zugehörigkeit. Fremdheit“ in Kamień Śląski/Polen, 14.-16.11.2016).

Die italienische Arbeitsmigration und die Europäische Integration (Tagung „Migration in der Geschichte“ an der Akademie für politische Bildung Tutzing, 15.12.2016).

Diplomatie, Arbeitsmigration und ihre wirtschaftlichen Folgen (Tagung „Migration in der Geschichte“ an der Akademie für politische Bildung Tutzing, 15.12.2016).

Zahlungsbilanzungleichgewichte, „Gastarbeiter“ und die europäische wirtschaftliche Rekonstruktion 1945 – 1958 (2. Kongress für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Bonn, 21.04.2017).

Italienische „Gastarbeiter“, Europa und der Südwesten. Aspekte früher europäischer Integration aus der Perspektive Baden-Württembergs (Gespräche am Tor – Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur in Karlsruhe, 21.06.2017).

Westdeutschland und die italienische Arbeitsmigration. Zu wirtschaftlichen Aspekten früher europäischer Integration (Research Seminar in Economic History, Fakultät für Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre, Seminar für Wirtschaftsgeschichte, Universität Mannheim, 14.03.2018).

Rom - vom Sehnsuchtsort Bildungsreisender zum Schmelztiegel gescheiterter Migrationspolitik? (Internationale Konferenz "Et in Arcadia Ego. Rome as a Memorial Place in European Cultures", Universität Łódź/Polen, 20.-22.09.2018).

Balance of Payments Deficits, "Guest Workers" and Early European Economic Integration (International Conference "Europeanization - What Else? Ideas and Practices of (Dis-)Integrating Europe since the 18th Century, University of Graz, 13-15 June 2019).

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Letzte Änderung: 16.09.2019